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Ansätze für eine Internet-Heuristik

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01.07.97


A

Begriffsbestimmung: Internet-Heuristik

Unter einer Internet-Heuristik könnte folgendes verstanden werden:

Die Techniken des Findens von relevanten Informationen im Internet.

Der Ausdruck stammt aus dem Griechischen und meint nicht nur das Finden, sondern auch das Erfinden. In der Wissenschaft gilt die Heuristik, als die Lehre von den Verfahren, Probleme zu lösen.Die Heuristik arbeitet neben den Mitteln, die die Logik anbietet, auch mit Vermutungen, Analogien, Generalisierungen, Arbeitshypothesen und Gedankenexperimenten, vor allem aber mit der Entwicklung von Modellen, die die Zusammenhänge zwischen Suchen und Finden wiedergeben.

Mögliche Komponenten für eine Internet-Heuristik sind:

  • Vorinformationen über das Gesuchte, die das Einkreisen des Suchraumes erleichtern
  • Präzise Formulierung der Suchabfrage zur Filterung der Datenmenge
  • Zufall und Glück bei indirekten Wegen

Mögliche Werkzeuge für eine Recherche sind neben dem Fragen eventuell kompetenter Experten:

  • Die Verzeichnisse, liebevoll auch "Linkhalden" genannt
  • Die Suchmaschinen und lokalen Suchindexe
  • Die sogenannten Zufallsgeneratoren

Mögliche Schwierigkeiten, die speziell das Internet bietet:

  • Der Datenbestand im Netz unterliegt nicht-überschaubaren Veränderungen. Im Gegensatz zu einer Bibliothek, in der sich die Bücher nicht verändern oder nicht einfach in Nichts auflösen (abgesehen einmal von den Diebstählen).
  • Nicht-Finden kann auch bedeuten, daß die gesuchte Information gar nicht im Netz vorhanden ist, weil sie niemand im Internet veröffentlichte.
  • Es wird in den automatischen Werkzeugen nicht nach Begriffen, sondern nach Zeichenketten (Strings) gesucht und dies in einem nicht einheitlich strukturierten Datenmeer.
  • Es besteht keine Möglichkeit, erst den Gesamtdatenbestand festzustellen und dann eine Ordnung zu definieren, in der sich die diversen Suchwege begründen ließen, also verallgemeinert werden können.

Die Relevanz von Informationen orientiert sich am Interesse der Suchenden. Kann eine Information das zur Frage führende Problem lösen, dann ist sie relevant, bezüglich dieses Problems und dieses Suchenden. Relevanz ist also eine Beziehung zwischen Suchenden, Problem und Information.


B

Punkte, die gegen eine gängige Erwartungshaltung zu einer möglichen Beziehung Suchen-Finden sprechen

Ein weitverbreiteter Irrtum führt zu einer Erwartungshaltung gegenüber den Suchmaschinen und Verzeichnissen im Internet, und natürlich gegenüber jedem anderen strukturierten System, wie etwa der Katalogisierung, die in Bibliotheken vorgenommen wird.

Der Irrtum besteht darin anzunehmen, daß eine Maschine weiß und versteht, was ein Suchender in ihr finden will und welche Relevanz die Information für den Suchenden haben könnte.

Keine Maschine kann zwischen "interessant" und "uninteressant" trennen, sondern führt nur die Anweisungen der Suchenden zur Filterung der Daten-Menge aus. Der Suchende muß also das Denken selbst übernehmen, und kann dies nicht erfolgreich der Maschine überlassen. Für die Formulierung der Filterung wird die Logik eingesetzt.

Es ist daher naiv zu glauben, die Logik könnte man zur Bestimmung des Interessen-Grades einer Information, Date oder sonst etwas einsetzen. Bevor es an die Logik geht, hat bereits ein normatives System zugeschlagen, nämlich das Eigene. Das Problem - entgegengesetzt des rationalistischen Gedankens, es könne nur eine Vernunft geben, und die sei sich nun mal anzufleißen (Jakobiner - Es gibt nur eine Vernunft, jeder abweichende Gedanke ist ein Abweichen von der Vernunft) - läßt sich nicht damit lösen, indem ich nun glaube, alle anderen würden Informationen ebenfalls so sortieren wie ich und ebenso strukturieren. Dies tun sie eben nicht - schon deshalb nicht, weil sie nicht das gleiche Normengeflecht haben wie ich, sondern ein Eigenes. "Interesse" ist eher die Beziehung zwischen einer neutralen Date und dem eigenen Normensystem.Diese Kenntnis läßt sich für eine gezielte Recherche nutzen, indem sich in das Normensystem der Informationsanbieter hineingedacht wird. Das ist insbesondere für die Verzeichnisse zu beachten und im allgemeinen für die Strukturierung der Datenbanken.


C

Recherche-Beispiel im WWW

Wer erfand eigentlich die Softwareentwicklung?

Also, von wem stammte der Gedanke, aus einem "Kaffee-Automaten" einen Computer zu machen?

Mit diesem Beispiel möchte ich das Zusammenwirken der oben genannten Komponenten für eine "glückliche" Internet-Heuristik demonstrieren.

1

Vorinformationen

Nun habe ich ja bereits ein paar Vorinformationen aufgeschnappt.Es gibt einen Briefwechsel zwischen dem Großvater der Hardware und der Großmutter der Software. Aber, die gute Frau wurde einfach mal so von der Geschichtsschreibung verschluckt. Dem guten Mann werden nun vielerorts ihre Ideen gutgeschrieben, ein gefeierter Pionier der Informatik

Ich habe nun folgende konkreten Vorinformationen:

  • Der Mann hieß Babbage
    (Vorname habe ich vergessen)

  • Nach der Frau wurde eine der KI-Sprachen benannt, nämlich ADA
    (Diese Sprache wurde im am. Verteidigungsministerium eingesetzt)

  • Babbage ist ein Zeitgenosse von Georg Boole.

  • Babbage baute eine Differenzierungs-Maschine.

Diese 4 Aussagen habe ich nun zur Verfügung, um das von mir Gesuchte zu beschreiben. Ich weiß noch nicht einmal, ob ich bei dieser Geschichte nicht einen Bären aufgebunden bekam.

2

Formulierung der Frage zur Eingrenzung des Suchraumes

  1. Wie heißt die Url dieses Briefwechsels Ada/Babbage aus dem die Ideen der Ada hervorgehen, nämlich die Funktionen der Maschine über eine formale Sprache der Maschine beizubringen, und so verschiedene Funktionsweisen für ein und dieselbe Maschine zu ermöglichen - nicht ganz unwichtig - denn die gute Frau hatte mal locker bei einer Tasse Tee damit die Softwareentwicklung erfunden und wurde so zur eigentlichen Erfinderin des Computers. Dies zu einer Zeit, in der noch nicht einmal das Auto erfunden war.

  2. Um die 1. Frage beantworten zu können, muß ich wissen wie die Frau überhaupt hieß, denn an den Namen kann ich mich gar nicht mehr erinnern.

  3. Mögliche Ausdrücke sind: Babbage, Boole, Ada, Differenz-Maschine.

3

Mögliche Informationen, die auf die normative Struktur der Informationsorganisation schließen lassen

Jetzt denke ich mich in die Tiefen eines Informatiker-Gehirnes hinein. Natürlich folge ich meinen Vorurteilen:

Hardware kann man anfassen und kaputmachen - das ist konkret, Software nicht - das ist abstrakt, also zu kompliziert, weil theoretisch und damit nicht praktisch, also, nicht so wichtig. Je weniger man sich mit diesen theoretischen Dingen beschäftigt desto besser.

Die Möglichkeit in den Datenbeständen der Informatik Hinweise für solch kleine Randnotizen zu finden, ist also nach meinen Gutdünken eher minimal. Wer könnte an einer Bewahrung dieser Information überhaupt interessiert sein?

Ada konnte in ihrer Zeit nicht einfach ein Buch über ein solches Thema schreiben - Frauen konnten im 19.Jhdt.- wenn überhaupt - nur Bücher in dem Bereich Literatur ansiedeln, aber nicht eben mal in dem Bereich Wissenschaften und schon gar nicht in dem Bereich Philosophie - z.B. Mary Wollstonecraft Shelley schreibt ihre Theorien zum notwendigen Scheitern der Idee eines "künstlichen Menschen" nicht als wissenschaftliche Arbeit, sondern in der Form eines Romans: "Frankenstein - The Modern Prometheus" (Übrigens, zusammen mit Lord Byron, kein geringerer als der Vater von der hier gesuchten Ada, und ihrem Mann Percy Bysshe Shelley, entwickelt sie die Idee eines künstlichen Monsters). Warum das so war, und auch noch heute so ist, wenn auch nicht mehr ganz so heftig, würde uns ein normatives System verraten. Tatsächlich ist es dem amerikanischen Verteidigungsministerium zu verdanken, daß die gute Ada nicht vollends auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet ist.

Also ist anzunehmen, daß eine feministische Ausarbeitung der Computer-Geschichte mehr Licht in die Sache bringt, als eine aus dem FB Informatik oder Mathematik. Frauen schreiben über Frauen.

Ich habe nun noch dazu: Frauen in der Computergeschichte (Ein im Sinn).

4

Recherche nach dem gesuchten Material

(1)

Zuerst rufe ich AltaVista auf und gebe den Namen Babbage ein, in der Hoffnung, so auf den Namen seiner wichtigsten Brieffreundin zu kommen.

(2) Ich entdecke dann in einer Liste den Eintrag:

Babbage Net School
A virtual school offering high school and college courses taught by experienced, certified teachers in a live, on line, interactive environment over the
http://www.babbagenetschool.com/ - size 3K - 28.Jan.97 - English

Ich klicke mich da hinein, weil ich mir denke, wer seine Schule nach diesem Babbage benennt, müßte eigentlich auch wissen, wer Babbage war, und finde eine Biographie zu Babbage

"Charles Babbage was born in London on December 26, 1792 [N.B., Bromley actually got this wrong; his birth year is regarded as 1791], the son of Benjamin Babbage, a London banker."

Ja, das muß er sein, und er hieß also "Charles Babbage" ;-) "Sohn eines Bankiers" - naja, macht nichts, sage ich mir, schließlich habe ich auch einmal in einer Bank gearbeitet.

Aber nirgends ein Wort über Ada, dafür eine kleine Literaturliste - kann man sich ja mal für später merken. Ich suche nun aber im Moment Ada, also kehre zurück zur Liste, die AltaVista auswarf.

(3) Der nächste scheinbar interessante Eintrag ist

The History of Computers: Charles Babbage
Charles Babbage. Charles Babbage 1791-1871. Charles Babbage was born in 1791 in Teignmouth, Devonshire, UK as the son of a banker called Benjamin Babbage..
http://www-stall.rz.fht-esslingen.de/studentisches/Computer_Geschichte/grp2/babbage.html - size 3K - 27.Jun.96 - English

Da ist dann auch ein ansehnliches Bild von Babbage
und sogar eine Zeichnung der Differenzierungs-Maschine

aber, nanu?

"Charles Babbage was born in 1791 in Teignmouth, Devonshire, UK as the son of a banker called Benjamin Babbage."

Ist hier jetzt vom selben Babbage wie in (2) die Rede? Offensichtlich.

Dennoch, auch hier: Kein Wort von Ada.

(4)
Bei einem Link nach Frankreich finde ich sogar ein wenig Foto der Differenzierungsmaschine

http://www.spieao.u-nancy.fr/eaoinfo/babbage.html

Oha, das sieht aber gar nicht wie ein Computer aus, sondern eher wie eine übertrieben komplexe Kaffeemühle.

Zudem heißt das Gerät hier auch noch "machine analytique". Ja, analysiert die Maschine nun, oder differenziert sie?

Egal - zwar wird die Pioniertätigkeit beschrieben, die Babbage mit der "Kaffeemühle" für die Menschheit leistet, aber, weit und breit keine Ada.

Diesmal ist es aber nicht die Informatik oder Mathematik gewesen, sondern die

"Faculté de Médecine de Nancy Université H.Poincaré"

(5) Ein Link zur "SUCCEED Engineering Visual Database" zeigt mir noch einmal alles Wissenswerte über diese "Kaffeemühle" in Form eines großen Bildes:

Eine Zeichnung aus dem "Science Museum of London"

Wieder keine Ada!

Aber dafür eine recht imposante Bildersammlung, die unter http://www.ce.vt.edu/evd/title.html nach Titeln strukturiert ist. Die Url muß ich mir doch gleich mal für später merken.

(6) Über einen Link in das Verzeichnis von Yahoo!

http://www.yahoo.com/Computers_and_Internet/History/People/Babbage__Charles__1791_1871_

finde ich nun eine Seite

About Charles Babbage
The Grandfather of Modern Digital Computing
http://www.scsn.net/users/babbage/aboutcb.htm

DA! --- NA, ENDLICH ---

Babbage's efforts to construct a computing machine piqued the interest of Ada Augusta, Countess of Lovelace and daughter of Lord Byron. He depleted his own funds, government grants, and the resources of Lady Lovelace. Together they risked her remaining inheritance on a Bet based on their system for winning horse races. They failed. Apparantly, "winning at the track is far more difficult than designing a computer."

Heureka! Jetzt habe ich ihren Namen ;-)

Ada Augusta Lovelace

(Interessanterweise stützt sich diese Quellen-Angabe auf einen für mich interessanten Autor im Bereich "Wissenschaftsgeschichte" - Isaak Asimov)

Hier heißt die Maschine allerdings: "difference and analytical engine" - Sie macht wohl beides, differenzieren und analysieren, oder ist am Ende gar die Bedeutung von "Analytik" gemeint, die auch Aristoteles meinte (Die Logik), und nicht die der Empirischen Wissenschaften?

(7)
Da ich nun gerade bei Yahoo! bin, tippe ich einfach einmal die Worte

ein und finde auch schnell eine Biographie

Dort ist auch das erste Bild von Ada A. Lovelace

http://ei.cs.vt.edu/~history/Ada.GIF

Aha, so sieht also eine Frau aus, die die Software-Entwicklung erfand - paßt irgendwie nicht ins Clichée, macht aber nichts, man lernt gern dazu.

Ada Augusta, Countess of Lovelace (1815-1852)
(8) Wo ist aber nun das "Original" - der Briefwechsel?

Erst der Briefwechsel belegt, daß Ada A. Lovelace die Erfinderin der Softwareentwicklung ist. Dieser Briefwechsel wird auch zeigen, daß sie eine Reihe verrückter Ideen hatte, die sich heute vielleicht mit dem Schlagwort Multimedia zusammenfassen lassen.

Nachdem ich die einzelnen Webseiten, die auf dieser Seite verlinkt sind, durchgeblättert habe, finde ich dann einen Link, der direkt in den schönen alten Gopher-Space führt:

gopher://gopher.Well.sf.ca.us/00/Science/ada
gopher://gopher.Well.sf.ca.us:70/00/Publications/Miscellaneous/ada.lovelace

und dort befindet sich ein Text (rein ASCII und schon etwas vergilbt - versteht sich):

To Charles Babbage
Thursday Morning [1843]
Ockham

My Dear Babbage. I have read your papers over with great attention; but I want you to answer me the following question by return of post. The day I called on you, you wrote off on a scrap of paper (which I have unluckily lost), that the Difference Engine would do. . . Analytical Engine would do . . . (something else which is absolutely general).

Be kind enough to write this out properly for me; & then I think I can make some very good Notes. . . A.A.L.

... u.s.w

Das sind Teile der Briefe von Ada Auguste Lovelace an Charles Babbage.Die von Betty Alexandra Toole in einem Buch dokumentiert werden, das sie hier in dieser kleinen Text-Datei vorstellt.

Siehe auch: http://www.cs.yale.edu/homes/tap/Files/ada-Bio.html

Weiter findet sich eine Notiz zu diesem Buch:

Notes annotated in collaboration with Colonel Rick Gross, USAF. ``Ada, The Enchantress of Numbers'' can be purchased from Strawberry Press P.O. Box 452 Sausalito, CA 94966 for $29.95.

In addition to Ada's prescient comments linking the Analytical Engine to its potential use for sound and graphics she provided what might be justly called "the first computer program", a plan for the Analytical Engine to calculate Bernoulli numbers, a very complicated chore. This table is also found in this chapter.

und eine Seite:

Lady Augusta Ada, The World's First Computer Programmer
http://acm.ewu.edu/homepage/krudin/wic/adasrch.htm

und sogar noch ein Poster

The Birth of the Computer Revolution

Falls jemand wissen will, warum die Programmier-Sprache ADA nach ihr benannt wurde (dort befinden sich auch ein paar Informationen über ihr nicht gerade glückliches Leben):

The Naming of Ada
ftp://sw-eng.falls-church.va.us/public/AdaIC/pol-hist/history/lady-lov.txt

(9) Meine Recherchen sind damit für mich erfolgreich gewesen.

Von nun an beginnt das Quellenstudium.

Der hier beschriebene Weg ist natürlich nicht die einzige Möglichkeit. Er zeigt aber, daß ausgehend von ein paar spezielleren Vorinformationen, eine Recherche abhängig zu diesen Informationen über das eigentliche Suchgebiet und Kenntnisse des normativen Verständnisses durchaus erfolgreich sein kann.


Stefan Müller, PhilNet: Internet-AG
am Philosophischen Seminar der Universität Hamburg
http://www.sozialwiss.uni-hamburg.de/phil/ag/internet.html